Alois Glück und Hermann Gröhe im Interview

14.10.2012

Der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Alois Glück, gab gemeinsam mit dem CDU-Generalsekretär und Neusser Bundestagsabgeordneten, Hermann Gröhe, der Tageszeitung „Welt“ ein Interview. Darin nehmen die beiden vor allem Stellung zu der Frage, was 50 Jahre nach Beginn des 2. Vatikanischen Konzils von diesem geblieben ist. Die Fragen stellten Dr. Matthias Kamann und Claus Christian Malzahn.
 
Die Welt: Herr Glück, Sie sind im katholischen Oberbayern aufgewachsen. Wie war es da, Evangelische zu treffen?
 
Alois Glück: Das war nichts Besonderes, die Zahl der Protestanten ist ja nach dem Krieg durch die Heimatvertriebenen stark gewachsen, die katholische Prägung war aber weiter bestimmend. Anders war die Situation in seit je her konfessionell gemischten Gebieten. Man kann sich heute nicht mehr vorstellen, wie die Konfessionen einander teilweise bewusst geärgert haben, indem die Protestanten an Fronleichnam und die Katholiken am Reformationstag die Feiertagstimmung der anderen durch laute Arbeiten gestört haben. Zugleich aber habe ich miterlebt, wie die erste ökumenische Bewegung nach dem Krieg von Laien ausging: die Gründung der beiden C-Parteien, wodurch die konfessionelle Spaltung in der Politik überwunden wurde.
 
Die Welt: Was erlebten Sie als Protestant, Herr Gröhe, am katholischen Niederrhein?
 
Hermann Gröhe: Meine Eltern sind 1958 aus Sachsen an den Niederrhein geflohen. Selbst aktiv in der evangelischen Jugend, habe ich bei Freunden in der katholischen Jugend viel ökumenische Offenheit erlebt, manchen vom Konzil begeisterten Priester kennengelernt. Als ich dann einmal mit der katholischen Jugend nach Südtirol fuhr, gab es allerdings ein paar Ältere, die glaubten, dies gefalle dem Priester nicht so sehr. Dessen Reaktion nach einem Gespräch mit mir beim Wandern habe ich nicht vergessen. Dem Segen vor dem Abendessen folgten die Worte: „Das war der Abendsegen Martin Luthers, guten Appetit.“
 
Die Welt: Wie haben Sie, Herr Glück, das Konzil als junger Mann erlebt?
 
Glück: Erst einmal nicht sehr bewusst. Zwar hatten wir in der Katholischen Jugend schon vorher manches gemacht, was dann auf dem Konzil beraten und beschlossen wurde. Schon Ende der Fünfzigerjahre etwa haben wir in unseren Seminaren die Eucharistie in der Landessprache am Tisch gefeiert. Doch welche Rolle dies und andere Themen auf dem Konzil spielen würde, war für uns zunächst weit weg. Das änderte sich dann, als das Konzil in die Gemeinden hinein zu wirken begann, mit der Liturgie in der Volkssprache und mit dem der Gemeinde zugewandten Priester. Es gab dabei auch Konflikte, weil manche übers Ziel hinaus schossen und Heiligenbilder und „kitschige“ Altäre ausräumten.
 
Die Welt: Wofür stand am Ende das Konzil?
 
Glück: Für eine frohe Botschaft, eine andere Art der Glaubensvermittlung und der Kirche. Es ging nicht mehr um jenen Gehorsamglauben, der in meiner Kindheit und Jugend die religiöse und soziale Norm war. Man musste ja damals eine bewusste Entscheidung treffen, wenn man sich entziehen wollte. Heute ist es umgekehrt: Man muss eine bewusste Entscheidung treffen, wenn man in der Kirche dabei bleiben will. Insofern war das Konzil in Verbindung mit den allgemeinen Demokratisierung in der Gesellschaft ein Signal, das viele Menschen begrüßt haben: Eine neue Offenheit. Allerdings kamen damit nicht alle in der Kirche zurecht, was zum Teil noch heute so ist.
 
Die Welt: Wie sehen Sie die Folgen des Konzils?
 
Glück: Hätte es das Konzil nicht gegeben, dann wäre die katholische Kirche heute vermutlich eine „kleine Sekte“, gewissermaßen aus der Zeit gefallen. Leider müssen wir feststellen, dass seit einiger Zeit der Geist des Konzils in der Kirche immer schwächer geworden ist. Wesentliche Akzentsetzungen – etwa in der Bedeutung der Ortskirchen gegenüber der Kurie oder die Balance zwischen Vielfalt und Einheit – wurden zurückgedrängt zugunsten des Zentralismus und Klerikalismus. Insofern ist der 50. Jahrestag ein wichtiger Anlass, einen neuen Aufbruch zu wagen, indem wir uns des Geistes des Konzils erinnern.
 
Gröhe: Obwohl es bei einem Konzil um den Weg der Kirche geht, will ich doch einmal den Bogen zur Politik schlagen: Ohne den damaligen Aufbruch der katholischen Kirche zur Ökumene, zur Laien- und Weltverantwortung sowie zum Gespräch mit anderen Religionen könnte es eine zeitgemäße Christdemokratie nicht geben. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern besonders auch für Lateinamerika, wo die Christdemokratie einen großen Beitrag zu Demokratisierung, Achtung der Menschenrechte und sozialer Gerechtigkeit geleistet hat. Das wäre ohne die ausdrückliche Ermutigung durch das Konzil nicht möglich gewesen. Dessen Doppelauftrag, die Tradition zu bewahren und – wie es Johannes XXIII. formulierte – „freudig und furchtlos“ den Weg fortzusetzen, ist auch eine gute Leitschnur für uns als Union. Wir wollen eine bleibende Wertorientierung im Leben heutiger Menschen zur Geltung bringen. Christliche Werte sind nicht fürs Bücherregal. Sie gehören mitten ins Leben – auch als Einladung an Menschen, die einen anderen oder gar keinen Glauben haben, im Sinne dieser Werte unsere Gesellschaft zu gestalten.
 
Die Welt: Fordern Evangelische immer nur Bewegung von Katholiken?
 
Gröhe: So nehme ich das nicht wahr. Es wäre auch falsch, die Ökumene nur an den schwierigen theologischen Fragen des Amts- oder Abendmahlsverständnisses festzumachen. Dabei verhehle ich nicht: Verheiratet mit einer Katholikin erlebe ich die Trennung beim Abendmahl als sehr schmerzlich. Gerade überzeugte Christen leiden darunter. Zugleich gibt es die schöne Erfahrung, voneinander zu lernen. Ich denke an die gewachsene Bibelfrömmigkeit in katholischen Kreisen oder die gestiegene Wertschätzung für die Liturgie in der evangelischen Kirche. So feiern viele unserer Gemeinden heute Osternachtsgottesdienste.
 
Glück: Die Ökumene ist auch in der Vielfalt der evangelischen Kirchen mitunter ein schwieriges Thema. Nachdem die beiden Kirchen die gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre verabschiedet hatten, gab es zum Beispiel heftige Proteste evangelischer Theologen. Was ich mir von meiner eigenen Kirche wünsche, ist mehr Offenheit für eine gute Praxis, also zum Beispiel zum gemeinsamen Abendmahl in konfessionsverbindenden Ehen. Es gibt zum Beispiel evangelische Elternteile, die bei der Kommunionvorbereitung ihres Kindes mithelfen, aber dann bei der Feier der Erstkommunion selbst nicht zur Eucharistie gehen dürfen. Das kann nicht richtig sein. Es geht um eine differenzierte pastorale Praxis, nicht um eine Beliebigkeit.
 
Gröhe: Ein weiterer Punkt: In den neuen Bundesländern gehören weniger als ein Drittel, in vielen westdeutschen Großstädten weniger als die Hälfte der Menschen einer Kirche an. Gerade in dieser großen missionarischen Herausforderung gilt der Wunsch Jesu aus dem Johannes-Evangelium, dass „sie alle eins seien, damit die Welt glaube“.
 
Die Welt: Was halten Sie von dem Aufruf „Ökumene Jetzt“?
 
Gröhe: Ich betrachte solche Initiativen mit großer Sympathie, auch wenn ich manches persönlich anders formuliert hätte. Aber solche Impulse sind sehr wichtig.
 
Glück: Man sollte sich besinnen auf die Ökumene der Märtyrer. Christen beider Konfessionen haben im Nationalsozialismus und im Kommunismus Schreckliches erlitten. Daraus erwuchs später die Kraft zu gemeinsamem politischem Handeln im freiheitlichen Verfassungsstaat mit seiner Religionsfreiheit und seinem Pluralismus. Gerade hierfür war das Konzil von überragender Bedeutung.
 
Die Welt: Dagegen rebellieren die Piusbrüder.
 
Glück: Das Thema dürfte sich wegen der Starrheit der Piusbrüder von selbst erledigen.
 
Die Welt: Viele Unionspolitiker stehen auf der Seite des katholischen Reformflügels und geraten so in Konflikte mit Rom.
 
Gröhe: Ich erlebe auch vor Ort viele katholische Politiker, die unter dem Rückzug ihrer Kirche aus der Fläche richtig leiden. Die melden sich zu Wort – nicht um der Kritik Willen, sondern aus Liebe zu ihrer Kirche. Im Übrigen finden Sie in der Union die gesamte Vielfalt katholischer Meinungen ausgeprägter wieder als die vielfältigen Meinungen im Protestantismus. Insofern berühren die Union innerkatholische Konflikte stärker als innerprotestantische. Auch das ist letztlich Ausdruck einer historisch gewachsenen Nähe.
 
Die Welt: Wie geht die Union mit dem 500. Reformationsjubiläum 2017 um?
 
Gröhe: Die Reformation war und ist für unser Land ein besonders prägendes Ereignis. Ihr 500. Jahrestag ist wie der 50. Jahrestag des Zweiten Vatikanums ein guter Anlass daran zu erinnern, dass auch unsere politische Ordnung ohne das Christentum gar nicht denkbar wäre. Wenn wir beim Reformationsjubiläum das leidenschaftliche Ringen um den Glauben in den Mittelpunkt stellen, dann kann es über evangelische Selbstvergewisserung hinaus die christliche Botschaft für unsere Welt deutlich machen.
 
Glück: 2017 ist für uns erst einmal kein Anlass zum Feiern. Es ist der Beginn der Kirchenspaltung und erinnert an ein Versagen, ein Versagen auch meiner katholischen Kirche, die sich damals als reformunfähig erwiesen hat. Zugleich ist es ein Anlass darüber nachzudenken, wie wir der Einheit näher kommen können, wobei ich in beiden Kirchen noch Unsicherheit spüre, wie man mit diesem Jubiläum umgehen soll.
 
Die Welt: Wer versteht denn heute noch Luthers Ringen um Gottes Gnade?
 
Glück: Die Grundbotschaft von der Gnade Gottes ist einfach. Wir verdienen uns das Heil nicht aus eigener Kraft, sondern es wird uns geschenkt durch die unendliche Gnade Gottes, der sich den Menschen bedingungslos zuwendet. In der Tat aber müssen wir uns gemeinsam fragen, warum es uns immer weniger gelingt, den Menschen diese Erfahrung nahezubringen. Man darf dieses Problem nicht einfach abtun, es gibt da gefährliche kirchliche Selbstschutzmechanismen nach dem Motto, dass die Menschen halt nichts Verbindliches wollen oder oberflächlich seien, weshalb es bestimmt nicht an der Kirche liege. Nein, wir müssen uns schon auseinandersetzen, warum wir mit dieser Botschaft immer weniger Menschen erreichen. Zumal mehr denn je auf der Suche nach Sinn und Orientierung für ihr Leben sind.
 
Gröhe: Unser Auftrag ist es, die Botschaft von der Gnade Gottes immer wieder verständlich zu machen. Viele Menschen erfahren auch heute Gnadenlosigkeit – in zwischenmenschlichen Beziehungen, am Arbeitsplatz, in den Konflikten unserer Zeit. Sünde und Vergebung sind vielen als Begriffe fremd, nicht aber der Wunsch danach, etwas ungeschehen machen zu können, und die Chance für einen Neubeginn zu erhalten.
 
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